HT 2021: Global Histories of Anarchism: Communal Life, Concepts, and Education Between Asia, Europe and Russia in the 19th and 20th Century

HT 2021: Global Histories of Anarchism: Communal Life, Concepts, and Education Between Asia, Europe and Russia in the 19th and 20th Century

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Christoph Streb, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Vorträge dieses Panels befassten sich mit anarchistischen Initiativen in Jamaika, Japan, Südafrika, China, Palästina, Frankreich und den USA während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Diese Fallbeispiele wurden miteinander verknüpft durch zwei übergreifende Thesen. Erstens könne die Geschichte anarchistischen Denkens und Handelns nicht einfach in einer westlichen Tradition verankert werden, sondern müsse als Globalgeschichte konzipiert werden.1 Zweitens könnten anarchistische Ideen nicht isoliert untersucht werden, sondern seien im Zusammenspiel mit konkreten Praktiken der Kooperation, des kommunalen Lebens oder der Erziehung zu betrachten.

Zum Auftakt präsentierte ROBERT KRAMM (München) drei Beispiele radikaler Kommunen in Jamaika, Japan und Südafrika aus der Zwischenkriegszeit. Insbesondere standen aber allgemeinere konzeptuelle Überlegungen zur Erforschung radikaler utopischer Gemeinschaften im Zentrum seines Vortrags. Kramm schlug vor, Kommunen als praktische Laboratorien der Moderne zu erfassen. Darunter seien hier aber gerade nicht die außereuropäischen Experimentierfelder europäischer Kolonialreiche zu verstehen. Stattdessen können man den Begriff neu fassen, um kommunale Gegenentwürfe zu nationalstaatlicher und imperialer Autorität in den Blick zu bringen. Kommunale Initiativen, so Kramm auf dieser Grundlage, dürften gerade nicht als rückwärtsgewandte Reaktion auf Modernisierungsprozesse verstanden werden. Wenn die drei vorgestellten Kommunen typische Erfahrungen des frühen 20. Jahrhunderts verarbeiteten, dann nie durch pauschale Ablehnung, sondern immer durch eine selektive Aneignung technischer und wissenschaftlicher Neuerungen, etwa in der Form von Kommunikationsmedien oder Transportmitteln. Kommunales Leben zielte somit auf eine praktische Neuerfindung der Moderne aus einer (immer auch selbst so imaginierten) Position der Marginalität. Die vorgestellten Initiativen sollten mittelfristig in die Zentren ausstrahlen und diese nach neuen Maßstäben gestalten.

Die von Kramm hervorgehobene lebenspraktische Komponente anarchistischer Mobilisierung unterstrich auch der zweite Vortrag des Panels. SHAKHAR RAHAV (Haifa) untersuchte hier den durchaus profanen Alltag chinesischer Kommunen nach dem Ersten Weltkrieg. Auch in den hier vorgestellten Beispielen wurde dabei die selektive Modernität kommunalen Lebens deutlich herausgestellt. So entfalteten chinesische Anarchist:innen eine rege publizistische Tätigkeit und waren in transnationale Kommunikationsnetze eingebunden. Rahav hob hier zunächst die Bedeutung des Krieges als Katalysator für die transnationale Ausbreitung anarchistischen Denkens und die weit verbreitete Herausbildung politisch motivierter Formen des kommunalen Lebens hervor. Bereits die Inspiration für die von Rahav analysierten Beispiele stammte unter anderem von der Neudorf-Bewegung aus Japan, die Kommunen primär auf dem Land errichtete. Chinesische Aktivisten (und einzelne Aktivistinnen) nahmen solche japanischen Impulse auf und versuchten in ihren eigenen Kommunen, manuelle und intellektuelle Arbeit zu verknüpfen und so eine autarke Existenz zu führen. Ihre politische Vision blieb dabei allerdings dezidiert global. Kommunales Leben im Kleinen war letzten Endes auf eine Transformation im Großen ausgerichtet. Die globale Veränderung sollte sich in Form eines Netzwerks aus lokalen Initiativen ergeben.

Im dritten und letzten Vortrag vertiefte YOTAM RONEN (Vancouver) in erster Linie die Diskussion des Verhältnisses von anarchistischer Theorie und anarchistischer Praxis. Er präsentierte zwei Erziehungsinitiativen aus den 1910er-Jahren, die Ferrer School in New York (1910-1915), die vorwiegend jüdische Migrant:innen unterrichtete, und die chinesische Arbeiterschule in Paris (1916-1918). Beide Erziehungsprojekte stellten wie die Beispiele der vorgehenden Vorträge erneut die transnationale Dimension anarchistischer Initiativen in dieser Phase heraus. Beide gingen nicht nur auf eine größere Migrationsbewegung zurück, sondern auch auf einen lebhaften Austausch von Erziehungsidealen, wobei Piotr Kropotkins vielfach übersetzte Schriften eine omnipräsente Referenz waren. Ronen betonte aber gleichzeitig wichtige lokale Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem französischen Beispiel. Zu erklären seien diese durch unterschiedliche praktische Anforderungen, die mit den Spezifika der jeweiligen Migrationssituation in Verbindung standen. In New York waren die Migrant:innen gekommen, um zu bleiben. Die Ferrer School war in ihrer Unterrichtung entsprechend um eine dezidiert undogmatische anarchistische Erziehung bemüht, die sich von den existierenden öffentlichen Schulen in den USA abgrenzen sollten. Die chinesischen Migranten dagegen waren im Krieg zur Unterstützung der Alliierten nach Europa gekommen und würden im Anschluss an diesem Aufenthalt in das junge republikanische China zurückkehren. Daraus folgte eine weniger offene, klarer moralisch und politisch formende Interpretation anarchistischer Erziehungsideale, die zur gegenwärtigen Reorganisation der chinesischen Gesellschaft einen Beitrag leisten sollte.

In ihrem ausführlichen Kommentar hob PASCALE SIEGRIST (London) die Diskussion auf eine abstraktere Ebene. Sie stellte explizit die Frage, wie die Ergebnisse der Vorträge gegenüber den in der Forschung etablierten, räumlich auf Europa und methodisch auf die Ideengeschichte fokussierten Deutungen der Geschichte des Anarchismus zu verorten seien. Schon was "Anarchismus" überhaupt sei, zeige sich in diesem Panel in einem neuen Licht. Während in der europäischen Ideengeschichte die Spaltung zwischen Anarchismus und Marxismus zentral sei, schienen dogmatische Detailfragen für Anarchist:innen etwa in Ostasien weitaus weniger bedeutsam. Siegrist legte hier vor allem nahe, dass ein Gewinn darin liegen könnte, aus der globalen Perspektive einen weiteren Anarchismusbegriff aufzunehmen. Stärker als bestimmte Dogmen bestimme dann die praktische Ähnlichkeit (hier griff Siegrist eine Kategorie des ersten Vortrags auf) räumlich verstreuter Initiativen, was Anarchismus sei. Dadurch träten Gemeinsamkeiten wie die antiautoritäre Positionierung der Akteure oder ihre alltagsbasierte reformerische Aktivität – "doing utopia" – gegenüber einer rigorosen ideengeschichtlichen Bestimmung in den Vordergrund.

Aus der Perspektive der Vorträge, so Siegrists Kommentar weiter, verändere sich aber nicht nur der Begriff, sondern auch das Narrativ des Anarchismus. Chronologisch erscheine in diesem Panel der Erste Weltkrieg als wichtiger Katalysator gerade auch jenseits der europäischen Geschichte. In allen Vorträgen sei zudem sehr deutlich geworden, dass anarchistische Initiativen sich konstruktiv mit den Krisen der Hochmoderne auseinandersetzten, statt, wie oft suggeriert, träumerisch in eine idealisierte Vergangenheit zurückzublicken. Als besonders erfrischend stellte Siegrist abschließend heraus, dass eine globale Perspektive offenbar dazu ermuntere, von einem etablierten Narrativ des heroisch scheiternden Anarchismus Abstand zu nehmen, welches hauptsächlich auf Beispiele aus der europäischen Geschichte zurückgehe. Gerade in außereuropäischen Zusammenhängen werde deutlich, wie wirkmächtig die praktischen Erfahrungen kommunalen Lebens für die Lebensläufe der Beteiligten waren. Auch die Verflechtung anarchistischer Argumente und Wissensbestände in größere intellektuelle Auseinandersetzungen des frühen 20. Jahrhunderts komme noch klarer heraus.

In der Abschlussdiskussion bekräftigten die Vortragenden die Beobachtungen des Kommentars nachdrücklich. Sie machten dabei aber auch immer wieder deutlich, dass eine Globalgeschichte des Anarchismus insbesondere in seiner praktischen Dimension in weiten Teilen erst noch zu schreiben sei. Aus globalgeschichtlicher Perspektive ist daher mit weiteren Erkenntnissen zur spezifischen Art und Weise zu rechnen, wie Anarchist:innen transnational agierten und – in Verbindung mit ihrer eigenen Aktivität – das Globale konzipierten.

Gerade in verstreuten Hinweisen zur anarchistischen Imagination des Globalen, das sei abschließend hervorgehoben, zeigte das Panel auf, dass in einer Globalgeschichte des Anarchismus mehr steckt als die "Verglobalgeschichtlichung" eines weiteren Themas. Die dezidierte Modernität anarchistischer Initiativen wurde in einer sehr spezifischen Art und Weise transnational konzipiert. Anarchistische Vorstellungen des Globalen lassen sich hier von imperialistischen oder internationalistischen Weltentwürfen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts abgrenzen. Einerseits wurde die Globalisierung dieser Phase durch Anarchistinnen und Anarchisten als autoritär und übergriffig bis in den Alltag hinein kritisiert. Andererseits aber wies auch der anarchistische Lösungsansatz für genau diese Probleme eine spezifische globale Dimension auf. In Experimenten des kommunalen Lebens wurden durchweg klein und groß, lokal und global miteinander zusammengedacht. Anarchist:innen entwickelten die emphatische Idee eines nahezu organischen Netz-Werdens der eigenen Aktivität. Eine solche positive Vision des Globalen als Netzwerk ist in den vergangenen Jahrzehnten stark überformt im Mainstream des Welt-Denkens angekommen. Hier eröffnet die Geschichte anarchistischer Initiativen des frühen 20. Jahrhunderts – fast etwas unvermutet – interessante Möglichkeiten zu einer Historisierung gegenwärtiger Globalisierungsvorstellungen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Robert Kramm (München)

Robert Kramm (München): Radical Utopian Communities: Japan, Jamaica, South Africa

Shakhar Rahav (Haifa): "Realizing a New Life": Comparing Communes in Post-WWI Asia

Yotam Ronen (Vancouver): Anarchist Education: Between Ideology and Educational Practice

Pascale Siegrist (London): Kommentar

Ana Maria Spariosu (Florenz): Alternative Communal Living: Non-Urban Experiments in Russia and Italy (ausgefallen)

Anmerkung:
1 Siehe für ältere Ansätze einer transnationalen Geschichte des Anarchismus etwa: Peter H. Marshall, Demanding the Impossible: A History of Anarchism, London 1992; Steven Hirsch & Lucien van der Walt (Hrsg.), Anarchism and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World, 1870-1940. The Praxis of National Liberation, Internationalism, and Social Revolution, Leiden 2010.


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